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Tagebuch eines Sauerteiges
Susanne Vögeli und Jeannette Fischer
1. Brot | 19. bis 26.März 2020
19. März 2020
Was es zu tun gibt
Damit sich ein Sauerteig entwickeln kann, habe ich in einer heiss ausgespülten Schüssel 100g Weizen-Vollkornmehl mit 100g dreissig Grad warmem Wasser vermischt. Die Schüssel mit dem Brei habe ich zugedeckt an einem warmen Ort, bei mir sind dies der Radiator oder die Bodenheizung, bei idealwerweise dreissig Grad 24 Stunden stehen lassen. Zwei Mal während diesen 24 Stunden wird der Brei umgerührt. Für eine konstante dreissig Grad Temperatur eignet sich auch der Backofen mit eingeschaltetem Backofenlämpchen.
Im Mehlbrei beginnen sich die im Getreide und in der Luft vorhandenen Hefesporen und Milchsäurebakterien wohl zu fühlen und zu vermehren. Bei diesem Prozess werden Kohlenhydrate verbraucht und es bildet sich das erwünschte CO2 für die Teiglockerung. Gleichzeitig bilden die aktivierten Milchsäurebakterien Milchsäure und senken so den pH-Wert des Getreidebreies. Dadurch werden allfällig vorhandene Sporen von Schimmelpilzen verdrängt . Damit sich kräftige Hefestämme entwickeln, um später ein Brot porös backen zu können, wird dieser Prozess über fünf Tage fortgesetzt.
Der Prozess der Veränderung löst das Bestehende immerzu auf, ohne das Ganze zu gefährden. Ein verlässlicher Prozess, der in Bewegung bleibt und auf etwas zustrebt, das uns wohltuende Nahrung verschafft. J.F.
20. März 2020
Beobachtung
Der Getreidebrei hat kleine gelbe Flecken an der Oberfläche? Schmeckt bereits fein säuerlich und fruchtig. Ich starte der gelben Flecken wegen parallel auch einen Roggensauerteig.
Was es zu tun gibt
Ich ergänze den Brei mit 100g Weizenvollkornmehl und 100g Wasser (30°C). Decke den Brei zu und lasse ihn wiederum 24 Stunden an der Wärme stehen. Zwei Mal umrühren mit einem sauberen Löffel tut dem Teig gut, denn so gelangt Sauerstoff in die Masse, was die Aktivität der Mikroorganismen fördert.
Bewegung heisst Belebung und bedeutet Leben. Erst im Tod hört Bewegung auf. J.F.
21. März 2020
Beobachtung
Nach so kurzer Zeit kann schon von einem Sauerteig die Rede sein. Der Teig ist jetzt aktiv und blubbert leicht. Geschmack und Geruch sind etwas intensiver fruchtig und fein säuerlich. Angenehme Gerüche von organischer Natur.
Was es zu tun gibt
Ich ergänze den Sauerteig wiederum mit 100g Vollkornmehl und 100g warmem Wasser und stelle ihn wie oben beschrieben für 24 Stunden an einen warmen Ort.
Das Wunder des Prozesses geht langsam und stetig voran und bleibt intakt, ohne eine Form von Destruktion. Neues erschaffen bedeutet nicht Altes zu zerstören. J.F.
22. März 2020
Was es zu tun gibt
Ich ergänze den Sauerteig wiederum mit 100g Vollkornmehl und 100g warmem Wasser und stelle ihn für 24 Stunden an einen warmen Ort. Wenn ich dazukomme, wende ich die Teigmasse mit einem Löffel, damit Sauerstoff zu den Hefezellen kommt und diese aktiviert.
Beobachtung
Die fruchtige Säure wird etwas spitzer. Die Idealtemperatur von 30°C kann ich nicht einrichten. Bei tieferen Temperaturen können Essigsäurebakterien aktiv werden und ihre Säure ist weniger mild.
Unser ICH ist keine fixe Grösse, sondern wird gebildet in einem Beziehungsraum mit einem oder mehreren Gegenüber. Somit verändert sich ICH unentwegt. Das ist die Bewegung des Lebens. J.F.
23. März 2020
Was es zu tun gibt
Ich ergänze den Sauerteig wiederum mit 100g Vollkornmehl und 100g warmem Wasser und stelle ihn wiederum für 24 Stunden an einen warmen Ort. Wenn ich dazukomme, wende ich die Teigmasse mit einem Löffel, damit Sauerstoff zu den Hefezellen kommt und diese aktiviert.
Beobachtung
Sehr aktive, dickfüssige Sauerteigmasse. Angenehm frischer Geruch und kräftig gesäuert.
Warum essen wir gern Sauerteigbrot? Ist es Überlieferung? Eine Assoziation mit Gewohntem, mit Sicherem, mit Ernährtsein? J.F.
24. März 2020
Beobachtung
Am Morgen: Sehr aktiver, dickflüssiger Sauerteig, CO2- Bläschen gut sichtbar, fruchtig sauer. Durch Beobachtung und Pflege des Teiges entwickelt er sich in die gewünschte Richtung.
Am Abend: Dieser Sauerteig ist kräftig aktiv und gut gesäuert. Die Sauerteigherstellung ist beendet.
Was es zu tun gibt
Ich stelle den Vorteig für das erste Brot her:
175g Roggenvollkornmehl
145g warmes Wasser ca. 30°C
17g Sauerteig
Die Zutaten vermischen und abdecken. Über Nacht bei 30 °C gären lassen, das kann 18 – 22 Stunden dauern. Dazu eignet sich die Wärmeschublade oder der Backofen mit eingeschalteter Glühlampe, dadurch erwärmt sich der ausgeschaltete Ofen auch ca auf 30 °C. Ab und zu umrühren fördert die Gärung.
Gut zu wissen
Vom übriggebliebenen Sauerteig 1-3 Gläser mit je 100g Sauerteig für die nächsten Brote im Kühlschrank aufbewahren. Wird der Sauerteig länger als 10 Tage nicht benutzt so muss er nach den folgenden Angaben aufgefrischt werden.
50g Grundsauerteig, genannt Anstellgut, wird in einem frisch gewaschenen Glas mit 50g Vollkornmehl und 50g Wasser vermischt . Diesen neuen Sauerteig an einem warmen Platz (25-30°C) gären lassen. Dann wieder kühl stellen bis zum nächsten Brotbacken. Den Rest des Sauerteiges verschenken oder im Kompost entsorgen.
Den Prozess der Veränderung anzuhalten bedeutet für den Menschen Krankheit oder Tod. J.F.
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25. März 2020
Beobachtung
Am Morgen: Der Vorteig ist aktiv, er hat eine poröse, luftige Struktur. Dieser Vorteig hat nun die Kraft, einen Brotteig so aufgehen zu lassen, dass ein Brot gebacken werden kann. In der Gärphase, die sich über 4 Tage erstreckte, konnten sich vielfältige Hefekulturen entwickeln und Aromen haben sich gebildet. Die Milchsäurebakterien haben den pH-Wert gesenkt, sodass keine unerwünschten Mikroorganismen gedeihen können.
Was es zu tun gibt
Ich stelle den Brotteig her:
Vorteig oben beschrieben
310g Weizenruchmehl
235g warmes Wasser ca. 25°C
10g Salz
Alle Zutaten zu einem Teig mischen, kurz zu einem homogenen Teigballen verkneten. Zugedeckt während 60 Minuten ruhen lassen. Den Teig auf die bemehlte Arbeitsfläche geben, rundwirken. Die Oberfläche des Teiges gut bemehlen. Im Gärkorb ohne abzudecken bei Raumtemperatur reifen lassen. Diese Phase kann 2-5 Stunden dauern. Es sollen sich an der Oberfläche der Teigkugel durch das Aufgehen bedingte Risse bilden.
Ich backe die Brote in einem alten Bräter (Gusseinenntopf). So bleibt die Feuchtigkeit des Brotes im Backraum erhalten, das Brot bekommt eine Kruste und trocknet doch nicht aus. Solche Töpfe sind oft in Brockenhäusern aufzufinden.
Bei 250°C fallend auf 230°C 40 -45 Minuten im während 30 Minuten vorgeheizten gusseisernen Topf backen. Nach der halben Backzeit den Deckel abnehmen. Gut auskühlen lassen. Erst am Folgetag anschneiden wäre ideal.
Gut zu wissen
Zutaten exakt abwägen, nicht experimentieren. Der Teig ist weich und klebrig.
Durch das Kneten entsteht dank der Elastizität des Klebereiweisses Bindung und ein Teigballen bildet sich.
Erst wenn der Teig sichtbar leicht aufgegangen, das heisst leicht aufgeblasen ist, mit dem Backprozess starten. Das Rezept gibt eine Richtlinie an. Durch das eigene Beobachten und handwerkliche Erfahrung entwickeln sich die Kenntnisse, wie der Teig aussehen und duften und wie sich die Konsistenz anfüllen soll um ein gutes Brot herstellen zu können.
Ein Wunder: Nichts geht verloren, nichts ist unnütz. Alles hat seine richtige Zeit. J.F.
26. März 2020
Beobachtung
Das erste Sauerteigbrot liegt jetzt im Kunstraum Eck. Ich habe es auf ein weisses Leinentuch gelegt. Es verströmt appetitanregende Röstaromen. Das Brot ist rundlich voll in Form, eine körperliche Fülle. Ohne es gekostet zu haben, kann ich mir seine kulinarischen Qualität vorstellen. Fruchtige Aromen, weicher Getreidegeschmack, mineralisch vom Salz, knusprige Rinde und ein weich poröses Innenleben.
Gut zu wissen
Brote mit einer langsamen Teigführung reifen am ersten Tag nach dem Backen noch nach. Sie sind vom zweiten bis vierten Tag voll aromatisch. Das Brot mit einem Leinentuch vor dem Austrocknen in unseren geheizten warmen Küchen schützen.
Das Buch Kohelet, Kapitel 3
Für alles gibt es eine Zeit – Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel: Zeit zu gebären und Zeit zu sterben, Zeit zu pflanzen und Zeit, Gepflanztes auszureißen. Zeit zu töten und Zeit zu heilen, Zeit einzureißen und Zeit zu bauen. Zeit zu weinen und Zeit zu lachen, Zeit zu trauern und Zeit zu tanzen. Zeit, Steine zu werfen, und Zeit, Steine zu sammeln, Zeit zu umarmen und Zeit, das Umarmen zu meiden. Zeit zu suchen und Zeit verloren zu geben, Zeit zu bewahren und Zeit wegzuwerfen. Zeit auseinander zu reißen und Zeit zusammenzunähen, Zeit zu schweigen und Zeit, °Worte zu machen. Zeit zu lieben und Zeit zu hassen, Zeit für den Krieg und Zeit für den Frieden.
9Welcher Gewinn bleibt denen, die so handeln, von ihrer Mühe?
Mein Lieblingsbibelspruch. Ich stelle ihn als Abschluss des ersten Brotes zur Diskussion.
Ich finde ihn grossartig, weil er zeigt, dass nichts beschleunigt werden kann, nichts verzögert werden kann, dass, wenn die Zeit da ist, es richtig ist. Und dass all unser Bemühen, etwas unter Kontrolle zu bringen, sinnlos ist. J.F.
Gut zu wissen
Den Sauerteig immer auch degustieren um seinen Geschmack kennen zu lernen und die Veränderungen wahrzunehmen.
Es ist wichtig saubere Utensilien zu verwenden damit keine unerwünschten Mikroorganismen dazukommen.
Entwickelt sich Schimmel auf dem Sauerteig so muss er entsorgt werden.
Ist der Teig aktiv das heisst er entwickelt Co2 Bläschen und ist wohlschmeckend säuerlich, so kann der Brotteig zubereitet werden.
Den nicht verwendeten Sauerteig in einem Glas im Kühlschrank bis zum nächsten Backtag aufbewahren.
Wird der Sauerteig Anstellt genannt nicht genutzt so soll er nach 10 Tagen aufgefrischt werden. 30g Vollkornmehl und 30g Wasser mit 1 Teelöffel Sauerteig vermischen und zugedeckt an einem warmen Ort gären lassen. Diesen aktivierten Sauerteig wieder kühl stellen bis zum nächsten Brotebacken.
Die Resten von Sauerteig für Blini verwenden, verschenken oder kompostieren.
Möchte man ein leichtere Brot backen so kann anstelle von Vollkornmehl auch Ruchmehl verwendet werden.
Mit Roggenmehl werden die Brote kompakter, sind jedoch sehr aromatisch. Roggen und Weizen kann auch gemischt werden.
Mit Dinkelmehl werden Brote flach, weil der Kleber anders zusammengesetzt ist. Ich empfehle mit Dinkel Kastenbrote zu backen oder mit einem Brühstück zu arbeiten.
Zum Rezept Sauerteigbrot
Küche Sauerteigbrot / Rezept